Sommerzeit
gelassen
das Tempo wechseln
Sommerzeit
Gabe
und Auf – gabe
So lass mich, Gott,
zu mir
zu dir
zum Leben
finden.
Autor unbekannt
Wenn ich könnte...
„Wenn ich könnte,
gäbe ich jedem Kind
eine Weltkarte...
Und wenn möglich,
einen Leuchtglobus,
in der Hoffnung,
den Blick des Kindes
auf äußerste zu weiten
und in ihm
Interesse und Zuneigung
zu wecken
für alle Völker,
alle Rassen,
alle Sprachen,
alle Religionen.“
Dom Hélder Câmara (1909-1999)
aus: Dom Hélder Câmara: Mach aus mir einen Regenbogen. Mitternächtliche Meditationen, München/Zürich 1981.
wer weiß?!...
In einem Dorf in China, nicht ganz klein, aber auch nicht gross, lebte ein Bauer - nicht arm, aber auch nicht reich, nicht sehr alt, aber auch nicht mehr jung, der hatte ein Pferd. Und weil er der einzige Bauer im Dorf war, der ein Pferd hatte, sagten die Leute im Dorf: "Oh, so ein schönes Pferd, hat der ein Glück!"
Und der Bauer antwortete: "Wer weiss?!"
Eines Tages, eines ganz normalen Tages, keiner weiss weshalb, brach das Pferd des Bauern aus seiner Koppel aus und lief weg. Der Bauer sah es noch davongaloppieren, aber er konnte es nicht mehr einfangen. Am Abend standen die Leute des Dorfes am Zaun der leeren Koppel, manche grinsten ein bisschen schadenfreudig, und sagten: "Oh der arme Bauer, jetzt ist sein einziges Pferd weggelaufen. Jetzt hat er kein Pferd mehr, der Arme!"
Der Bauer hörte das wohl und murmelte nur: "Wer weiss?!"
Ein paar Tage später, sah man morgens auf der Koppel des Bauern das schöne Pferd, wie es mit einer wilden Stute im Spiel hin und herjagte: sie war ihm aus den Bergen gefolgt. Gross war der Neid der Nachbarn, die sagten: "Oh, was hat der doch für ein Glück, der Bauer!"
Aber der Bauer sagte nur: "Wer weiss?!"
Eines schönen Tages im Sommer dann stieg der einzige Sohn des Bauer auf das Pferd, um es zu reiten. Schnell war er nicht mehr alleine, das halbe Dorf schaute zu, wie er stolz auf dem schönen Pferd ritt. "Aah, wie hat der es gut!"
Aber plötzlich schreckte das Pferd, bäumte sich auf und der Sohn, der einzige Sohn des Bauern fiel hinunter und brach sich das Bein, in viele kleine Stücke, bis zur Hüfte. Und die Nachbarn schrien auf und sagten: "Oh, der arme Bauer: Sein einziger Sohn!
Ob er jemals wieder wird richtig gehen können? So ein Pech!"
Aber der Bauer sagte nur: "Wer weiss?!"
Einige Zeit später schreckte das ganze Dorf aus dem Schlaf, als gegen Morgen ein wildes Getrappel durch die Straßen lief. Die Soldaten des Herrschers kamen in das Dorf geritten und holten alle Jungen und Männer aus dem Bett, um sie mitzunehmen in den Krieg. Der Sohn des Bauern konnte nicht mitgehen. Und so mancher sass daheim und sagte: "Was hat der für ein Glück!"
Aber der Bauer murmelte nur: "Wer weiss?!"
verlaufen
6:00 Uhr früh im Wald
Die ersten Meter noch langsam
Doch langsam gibt der Körper einen guten Rhytmus vor
Tapp-trapp, trapp-trapp
Gedanken ziehen dahin
Waldvögel zwitschern
das dichte Dach der Bäume
Augen auf
Wurzeln im Weg
Springen und die Kraft genießen
die Muskeln jubeln
endlich dürfen sie sich wieder anstrengen
gewohnter Weg
Wiedererkennen
beschließe vom Gewohnten abzuweichen
Neue Wege laufen voller Zuversicht
die Orientierung verlieren
umkehren
sich an der Sonne ausrichten
Sehnsucht nach den alten, gewohnten Pfaden
da endlich
der kleine Waldweg
mit neuer Kraft die letzten Meter
angekommen!
statt 45 Minuten, 1:15
Karin Stürznickel-Holst
Segen der Sinne
Zum Segen möge dir gereichen
all das Schöne, das dein Auge
wahrnehmen und im Laufe eines
einzigen Tages erblicken kann.
Zum Segen mögen dir gereichen
jeder Klang der Musik und jedes
gute Wort, dass du mit deinen
Ohren aufnehmen kannst.
Zum Segen mögen dir gereichen
die frische Luft, die du einatmest,
und der je eigene Duft,
der durch deine Nase dringt.
Zum Segen mögen die gereichen
all die verschiedenen Situationen,
die dich berühren, die du vorsichtig
mit deinen Fingerspitzen ertastest.
Zum Segen mögen dir gereichen
die vielen guten Gaben der Schöpfung,
die du verkosten kannst mit deinem Mund
und dem zarten Geschmack deiner Seele.
Zum Segen mögen dir gereichen
all die Wunder deines Schöpfers,
die er zur Freude deiner Sinne
erfunden und dir geschenkt hat.
Paul Weismantel
aus: Gnau, Dorothea, Hoesch Christina: Den Grund berühren. Spirituelle Elemente für Tage der Orientierung, für Schule und Gemeinde, München 2 2009, 62.
Wertvolle Worte
Im Frühling habe ich zwei neue Beete angelegt.
Es sollten Wildblumeninseln als Nahrungsquelle für Bienen und Schmetterlinge entstehen. Weil ich Sonnenblumen mag, habe ich auch sehr viele Sonnenblumenkerne dazwischen gesteckt. Das Beet war gut vorbereitet und während der Trockenphase reichlich mit Regenwasser versorgt. Von der bunten Mischung sind wenige Arten aufgegangen und – keine einzige Sonnenblume…
In einem anderen Beet hingegen, über dem im Winter das Vogelfutterhäuschen hing, sind zwei schöne Sonnenblumen gewachsen – einfach so…
Das erinnert mich an das Gleichnis vom Sämann aus dem Evangelium nach Matthäus (13, 1- 23). Dort wird von Samenkörnern berichtet, die an verschiedenen Orten liegen bleiben. Einige verdorren, einige gehen kurzzeitig auf, andere wachsen kräftig und bringen Frucht. Jesus nutzt dieses Gleichnis.
Er macht deutlich, wie unterschiedlich die Worte seiner Botschaft in den Menschen wirken können. Wie ist das heute? Wir können nicht wirklich sicher sein, dass ein gutes Wort auf fruchtbaren Boden fällt. Manchmal wirken gute Worte, die ohne eine spezielle Absicht gesagt werden. Ich vertraue darauf, dass einige der „Guten Worte“ auf geheimnisvolle Weise aufgehen. Darum ist es wichtig, die eigenen Worte achtsam zu wählen und die wertvollen großherzig auszustreuen.
Beate Lippert
Sei wie ein Kreisel
Sei wie ein Kreisel!
Stehe immer wieder auf
und lass dich neu anstoßen,
lass das Spiel des Lebens
nicht an dir vorbeirauschen –
begib dich mitten hinein,
spiel mit!
Sei wie ein Kreisel:
spür die Mitte,
in der du ruhst,
die dich aufrecht hält,
dir Kraft schenkt
und dich trägt!
Lass dich antreiben von dem
Schwung und der Lebendigkeit,
die in dir stecken
und andere anstecken können!
Merkst du, wie ein kleiner Punkt
als Standpunkt ausreicht? –
Aber dieser kleine Punkt
gehört dir ganz allein,
da steht niemand anders,
da bist du unvertretbar
und unverwechselbar du.
Sei wie ein Kreisel:
Doch dreh dich nicht nur um dich selbst.
Und sei auch bereit,
weiter zu tanzen zu neuen Standpunkten,
auf andere zuzugehen!
Sogar Schwellen kannst du überspringen –
wenigstens ab und zu.
Bernhard Kraus
aus: Gnau, Dorothea, Hoesch Christina: Den Grund berühren. Spirituelle Elemente für Tage der Orientierung, für Schule und Gemeinde, München 2 2009, 155.
Es gibt Zeiten
Es gibt Zeiten
da gilt es
das Leben zu feiern
das überstandene Dunkel
ein neues Buch
einen Geburtstag
Es gibt Zeiten
da gilt es
mit den Gefährten zu rasten
Brot und Wein zu teilen
sich der Schritte zu erinnern
die gegangen sind
Es gibt Zeiten
da gilt es
von Träumen zu erzählen
um kraftvolle Visionen
zu schaffen
sich Mut zu machen
für den weiteren Weg.
Es gibt Zeiten
da gilt es
einen langen Atem zu haben
und der Hoffnung
trotzdem
zu trauen.
Andrea Schwarz
Puzzle
Manchmal hab ich das Gefühl, dass
das Leben aus vielen Puzzleteilen besteht – und dass ich eigentlich gar nicht
mehr weiß, wo was hingehört.
Mag sein, dass sich in einer Ecke schon etwas
zusammengefügt hat, aber da liegen noch genug Teile auf dem Tisch – und immer
wieder kommen neue dazu. Und ich habe keine Ahnung, wie die alle
zusammengehören.
Manchmal aber ist es nur ein Gedanke, Einsatz, eine Idee, der
zwei Puzzleteile miteinander verbindet – und plötzlich ein sinnvolles Ganzes
ergibt.
Der eine Gedanke: Im Buch Exodus in
der Bibel wird erzählt, wie Gott sein Volk in die Freiheit führt. Die
Israeliten sollen frei sein. Der andere Gedanke: Gott schenkt seinem Volk einen
Tag zum Ausruhen und Atemholen, den Sabbat, den siebten Tag. Zwei Puzzlesteine,
die sich auf einmal ineinanderfügen: Um frei zu sein, muss man eigentlich
freihaben. Der Ruhetag will Freiheit möglich machen, einen Auszug aus den
Gefängnissen meines Alltags.
Der Ruhetag: keine Pflicht, sondern Einladung zur
Freiheit. Auch für mich.
Andrea Schwarz
Gott lässt grüßen. 40 Tage Auszeit für mich. Meditationskarten, Patmos-Verlag 2017.
didymus
wenn du es bist
tritt durch die stahltür
die von angst gehärtete
in mein zitterndes innen
wenn du es bist
leg deinen finger
auf die fieberstirn
meiner zweifel
wenn du es bist
führ deine hand
an die herzschwäche
meiner liebe
wenn du es bist
du weißt was weh mir tut
inwendig kennst du mich
als wärst du mein
zwillingsbruder
Andreas Knapp
Heller als Licht, Biblische Gedichte, Regensburg 2015
Bild: Caravaggio, Michelangelo
Merisi da: Der ungläubige Thomas, GK I 5438 / Stiftung Preußische Schlösser und
Gärten Berlin-Brandenburg / Hans Bach
In: Pfarrbriefservice.de
Thomas aber, einer der Zwölf - der Zwilling, didymus genannte - war nicht bei ihnen, als Jesus kam... Und nach acht Tagen - seine Jünger waren abermals drinnen, auch Thomas bei ihnen - kommt Jesus bei verriegelten Türen, trat in die Runde und sprach: Friede euch! Darauf sagte er zu Thomas: Führ einen Finger hierher und sieh meine Hände. Und für deine Hand hierher und leg sie in meine Seite. Und sei nicht ungläubig, sondern glaubend.
Hob Thomas an und sprach zu ihm: Mein Herr und mein Gott.
Johannesevangelium 20,24.26-28
Sämann
Der große Sämann,
ungerufen,
blies einen Atem von Blumensamen über mich hin
und streute eine Saat
von Kornblumen und rotem Mohn
in meine Weizenfelder.
Das leuchtende Unkraut,
mächtiger Sämann,
wie trenn ich es je
von den Ähren,
ohne die Felder
zu roden?
Hilde Domin
Nur eine Rose als Stütze, Gedichte, Frankfurt 2012
Verlieren
Das alte Leben verlieren heißt auch:
Sicherheiten aufgeben.
Ängste nicht weiterpflegen.
Falsche Schuldgefühle lassen.
Aus engen Traditionen ausziehen.
Sich nicht darum kümmern, was andere sagen.
Das alte Leben verlieren heißt auch:
Die Lust am Leben bejahen.
Zu seiner Sinnlichkeit stehen.
Sich neue Räume erschließen.
Das Risiko nicht scheuen.
Dem Kreuz nicht ausweichen.
Das alte Leben verlieren heißt auch:
Neue Wege suchen.
Zu träumen wagen.
Sich schutzlos öffnen.
Lieben, dass es wehtut.
Gott vertrauen.
Roland Breitenbach
Digitaler Weltentdecker
Videoanruf von meinem Vater: „Geht es an der Panamericana links oder rechts nach Piedra Azul?“, fragt er unvermittelt. Er sitzt in seinem Sessel, aber anscheinend ist er gerade in El Salvador unterwegs. Seit er das Tablet für sich entdeckt hat, bricht der häufig zu reisen auf. Ins Flugzeug will er mit seinen 80 Jahren nicht mehr steigen, aber digital hebt er sehr gerne ab. Er lässt den Globus vor sich kreisen und startet mit seinen Erinnerungen durch.
Ich muss mich orientieren. Mittelamerika ist lange her. An der Kreuzung wo man schnell vorbei. Kaffee trocknete am Straßenrand. Ein Schild gab es nicht. „Ich sehe den Vulkan, das ausgetrocknete Flussbett, aber nirgends den Namen“, sagt mein Vater etwas ratlos.
Ich öffne meine Karten-App und reise ihm hinterher. An der Kreuzung an der Panamericana treffen wir uns. „Ich glaube, wir müssen nach links“, sage ich und gemeinsam biegen wir ab. Wir wechseln zwischen Karten- und Satellitenansicht hin und her, zoomen uns an die Kurven heran, die wir einst gefahren sind.
„Haben
wir hier nicht gesessen?“ – „Ja, Pupusas!“ Ich suche schnell ein paar Fotos von
den gefüllten Maisfladen und schicke sie ihm. „Schade, dass noch kein Street
View für die Gegend gibt“, sagt mein Vater. „Gestern bin ich durch Barcelona
geschlendert.“ Ich beneide ihn um diesen Ausflug.
Piedra Azul entdecken wir nicht, zumindest ploppt der Name nie auf. Nicht alles ist digital verzeichnet. Aber eine gemeinsame Erinnerung stöbern wir auf: Als nach einem Sturzregen die Sonne auf das nasse Vulkangestein schien, leuchtete alles blau. Daher hat der Ort auf seinen Namen: „Blauer Stein“. Noch ein Weilchen sitzen wir 600 km voneinander entfernt an einem Berghang auf der anderen Seite der Welt und genießen die Aussicht.
Oliver Spies
(aus: Andere Zeiten e.V. (Hg.): wandeln 2020. Mein Fasten-Wegweiser, Hamburg 2020, 87.)
„Nicht alles ist digital verzeichnet“... und doch finde ich es eine schöne Idee, sich gedanklich und mit Hilfe der digitalen Medien auf Reisen begeben und dabei Erinnerungen, an schöne Orte wachzurufen, sich über die gemeinsamen Erfahrungen auszutauschen.
Dies ist auch möglich, wenn man verschiedenen Gründen nicht analog reisen und Zeit miteinander verbringen kann.
„Nicht alles ist digital verzeichnet“ – aber die Verbindung aus den digitalen Möglichkeiten und den analogen Erinnerungen und Verbindungen bietet (neue) Möglichkeiten, Schönes lebendig werden zu lassen.
Gute Reise!
Andrea Koucky
der täufer
väterlicher hoffnungsimpotenz und
erstorbenem mutterschoß zum trotz
sonnwendgeborener gottesmund
seinem engel folgend wird er
in steinverlorener wüste
zum erbauer der großen sternenstraße
wächter an der verheißungsgrenze
und trauzeuge des zum tode
verwundeten friedenslammes
sein wort streckt sich wie ein
sehnsuchtsgespannter brückenbogen
vom ufer aus zionsheimweh
bis zum lichtgestade des morgensterns
seine stimme dröhnt windverweht
bis in die palastkammern jerusalems
und wird zur axt an der übel wurzel
im erotischen tanz um die macht
wird mit johannes auch die gerechtigkeit enthauptet
sein ausgestreckter zeigefinger aber
weist für immer
auf jenen ermordeten hin
der im sterben noch
seine mörder begnadigt
Andreas Knapp
Weiter als der Horizont - Gedichte über alles hinaus
Detail aus dem Isenheimer Altar von Matthias Gründwald (1480-1530).
Es zeigt die Kreuzigung Jesu. Grünwald fügt Johannes den Täufer, der zum Zeitpunkt der Kreuzigung Jesu bereits enthauptet war, in das Bild ein. Johannes zeigt mit einem überdimensionierten Zeigefinger auf Jesus hin, ein Lamm zu seinen Füßen.
Am 24. Juni ist das Hochfest der Geburt Johannes des Täufers.
Seit meiner Kindheit
Seit meiner Kindheit
Bin ich den Menschen auf der Spur.
Ich frage viel.
Ich blieb sitzen,
wo viele gingen.
Ich lasse die Menschen
nicht aus meinen Augen.
Seit meiner Kindheit
Bin ich den Menschen auf den Fersen.
Auf diesem Weg hab ich
viel von Gott entdeckt.
Martin Gutl
aus: http://members.aon.at/gutl/martin_hp/gedichte_neu.htm
[Stand: 20.06.2020].
Kochrezepte
Ich koche ganz gerne – und wenn Besuch kommt, noch ein
bisschen lieber.
Und gelegentlich habe ich auch Lust, etwas Neues
auszuprobieren.
Dann macht es richtig Spaß, Rezepte zu lesen und zu vergleichen
und auf interessante Ideen zu kommen. Denn wenn man einmal die „Grundidee“
verstanden hat, dann schaut man, was im Kühlschrank ist und was eventuell
zueinander passt, wie sich die eine Zutat, die man grad nicht da hat oder nicht
mag, durch etwas anderes ersetzen lässt – oder was eine aparte, frische
Geschmacksnote geben könnte. Wenn man selten kocht, wird man sich eher an das
Rezept halten.
Je häufiger man kocht, umso freier wird man. Rezepte werden zu Anregungen und nicht mehr zu sklavischen Ausführungsbestimmungen. Dann aber wird jedes Gericht auch zu einem „Original“ – und ich werde es nie wieder genauso nachkochen können. Das geht dann, wenn man das „Grundrezept“ verstanden hat...
"Genau das sollte man in der persönlichen Spiritualität auch tun: die Rezepte hinter sich lassen " Dietmar Mieth
aus: Schwarz, Andrea: Gott lässt grüßen. 40 Tage Auszeit für mich. Meditationskarten, Patmos-Verlag 2017.
Ich sehe was, was du nicht siehst
Ich sehe einen kleinen Jungen, der nicht in den Kindergarten gehen darf, um dort seine Freunde zu treffen. Er integriert das Corona-Virus in sein Spiel, versteht aber noch nicht, warum dieses ihm verbietet, seine Freunde wiederzusehen. Ich sehe was, was du nicht siehst – Traurigkeit.
Ich sehe einen Jugendlichen, der nie gerne in die Schule gegangen ist. In den vergangenen Monaten ist er sich darüber bewusst geworden, was ihm alles fehlt, wenn er nicht in die Schule gehen darf. Als die Schule wieder öffnen durfte, konnte er es kaum erwarten, sie wieder zu besuchen. Ich sehe was, was du nicht siehst – Freude.
Ich sehe eine Familie, sie sich jetzt so richtig kennenlernt. Der Vater erklärt der Tochter, wie man ein Fahrrad repariert, der Sohn versteht nun, dass Wäsche waschen und Rasen mähen nicht ohne sind. Abends sitzen sie oft zusammen und erzählen einander von ihrem Tag. Ich sehe was, was du nicht siehst – Geborgenheit.
Ich sehe junge Menschen, die kurz vor ihrem Schulabschluss stehen. Schon seit einem Jahr fiebern sie ihren Prüfungen, aber auch den gemeinschaftlichen Feierlichkeiten nach der stressigen Prüfungszeit entgegen. Nun stellen sie fest, dass ihre Feiern, auf die sie sich so lange freuten, nicht stattfinden dürfen. Ich sehe was, was du nicht siehst – Enttäuschung.
Ich sehe eine ältere Frau, die ihren kranken Mann pflegt.
Schon seit Jahren ist sie für ihn da. In den letzten Monaten war es besonders
belastend, weil nicht nur Therapeuten nicht kamen, sondern weil auch Freunde
und Verwandte Abstand hielten. Die Frau ist auch in dieser Zeit für ihren Mann
da. Ich sehe was, was du nicht siehst – Liebe.
Stephanie Trieschmann
Singlis
Jede Woche fahre ich mehrmals von Homberg nach Borken. Manchmal muss ich in Singlis anhalten, weil die Bahnschranke geschlossen ist. Wenn ich Zeit habe, dann macht mir die Wartezeit nichts aus, wenn ich jedoch in Eile bin, ärgere ich mich, obwohl ich gar nichts für die geschlossene Schranke kann.
Anhalten, ausgebremst werden, warten müssen. Ein Phänomen,
das viele von uns in diesen Zeiten erleben. Eigentlich hätte ich heute zwei
Trauungen gehabt. Beide sind verschoben auf das Jahr 2021. Auch andere Zeitpläne
ändern sich, Vorhaben geraten ins Stocken. Viele planen ihren Urlaub neu, andere
stellen vorgesehene Anschaffungen zurück.
Wie kann ich mit diesen Situationen gut umgehen?
Ein Wort des ehemaligen Erzbischofs aus dem brasilianischen Recife, Helder Camara (1909-1999) passt dazu: „Sag ja zu den Überraschungen , die deine Pläne durchkreuzen, deine Träume zunichte machen, deinem Tag eine ganze andere Richtung geben – ja vielleicht sogar deinem Leben. Sie sind nicht Zufall. Lass dem himmlischen Vater die Freiheit selber den Einschuss deiner Tage zu bestimmen.“
Dieses Wort lädt mich ein, die Überraschungen und Unterbrechungen des Tages und dieser Zeit als Ausgangspunkt für eine neue Richtung und als Chance, die mir gegeben ist, zu sehen.
Wenn ich in Singlis an der Bahnschranke stehe, kann ich mich ärgern oder die Situation, die ich nicht ändern kann, annehmen.
Ich nutze die Wartezeit im Auto, um an die bevorstehende Begegnung zu denken, die Menschen zu beobachten oder einfach tief Luft zu holen, bewusst zu atmen oder ein Gebet zum Himmel zu schicken. Und: zum Ärgern über die geschlossenen Schranke bin ich nicht verpflichtet…
Peter Göb
Menschen gehen auf die Straßen, um zu zeigen, was Ihnen wichtig ist, wofür oder wogegen sie sind und machen damit auf wichtige Dinge aufmerksam.
Im vergangenen Jahr waren es Zehntausende vor allem junge
Menschen, die für Umwelt und Klimaschutz auf die Straßen gingen.
Fridays for Future
– Demonstrationen haben das Bewusstsein für unser Verhalten geschärft, aber
noch nicht nachhaltig genug verändert.
In den vergangenen Tagen und Wochen demonstrierten viele
Menschen in zahlreichen Städten der westlichen Welt für #blacklivesmatter.
Ausgelöst durch den gewaltsamen Tod von George Floyd in den USA demonstrieren
Menschen gegen Rassismus aller Art und in allen Bereichen.
An diesem Donnerstag wären eigentlich viele tausend Christen
auf den Straßen unterwegs sein, um Fronleichnam zu feiern.
Die aktuellen Bestimmungen
machen diese Prozessionen leider nicht möglich. Aber: dennoch ist das, was das
Fest sagt, wichtig:
Gott ist in unserer Welt gegenwärtig. Dieser Gott ist ein
Gott bei den Menschen.
Den Aktionen gemeinsam ist, dass es denen, die daran teilnehmen, ums Leben geht:
um das Leben auf unserer einen Welt und Schöpfung sowie um das Überleben der Menschheit,
um das Leben in Gleichheit und Gerechtigkeit, ohne Diskriminierung und Ausgrenzung,
um ein Leben, das über das Hier und Jetzt hinausweist.
Und darum finde ich es folgerichtig, wenn Christen sich bei
den Fridays for Future-Demonstrationen beteiligen,
gegen Rassismus auf die Straßen gehen und immer wieder zeigen, dass wir einen Gott für die Menschen, einen Gott fürs Leben, haben.
Auf die Straße gehen, eintreten für etwas, wovon wir überzeugt sind…
Für wen oder was, würden Sie auf die Straße gehen?
Und wann tun sie es? Oder warum tun sie es nicht?
Peter Göb
Be-geistert
Vor gut einer Woche haben wir Pfingsten gefeiert. Es ist für mich das Fest, an dem besonders deutlich wird, dass Gott uns nicht alleine lässt. Durch den Heiligen Geist ist er bei uns – manchmal spürbar, oft als stiller Begleiter. Es ist gleichzeitig das Fest, das uns aufruft und Mut macht, verkrustete Strukturen und manche zum Trott gewordene Gewohnheiten zu hinterfragen. Dies gilt für die Kirche aber auch für unser privates Umfeld.
Dies wird deutlich in der Pfingsterzählung. Hier wirbelt der
Heilige Geist einiges durcheinander: Die Apostel, die sich eingesperrt haben, werden
wachgerüttelt. Für sie tun sich die Türen auf. Dabei gehen sie als Be-geisterte
im Wortsinn hinaus zu den Menschen. Sie sprechen neue Sprachen, sodass Menschen
sie verstehen können, die vorher keinen Zugang fanden. Sie bekommen Kraft und
Mut, mit den Menschen in Kontakt zu treten.
Ich denke, auch bei uns will der Heilige Geist manches durcheinanderwirbeln. Er will es nicht nur an Pfingsten, sondern in allen Zeiten und Situationen – auch in der Corona-Pandemie. Er ermutigt uns, in einer Sprache zu sprechen, die für die Menschen heute verständlich ist. Aber nicht nur die Sprache im eigentlichen Sinn ist damit gemeint, sondern auch Kommunikationswege und Ausdrucksformen. Er will uns öffnen für neue Kontakte, für Menschen, mit denen wir bisher wenig oder gar nichts zu tun hatten
Nicht immer fällt es uns leicht, gerade diese Offenheit zu zeigen. Mir hilft es dann, die Bitte darum mit hinein ins Gebet zu nehmen – mit den folgenden oder anders gewählten Worten.
Herr,
öffne uns für das Wirken Deines Heiligen Geistes:
Befreie unsere Gedanken von vielem „Du musst“ und „Du sollst“,
gib uns Mut, quer zu denken,
um überholte lähmende Strukturen zu sprengen,
weite unsere bisherigen Grenzen,
um neue Perspektiven zu entdecken,
schenke uns Kreativität,
um eingefahrene Dinge neu anzugehen,
begleite uns in unseren Worten und Taten,
um eine „Sprache“ zu sprechen, die für die Menschen heute verständlich ist.
Herr, hilf, dass spürbar wird, dass wir wirklich be-geisterte Menschen sind.
Amen.
Andrea Koucky
Ein Funke...
...aus Stein geschlagen.
Das Lied von Gregor Linßen ist in Kirchenkreisen bekannt.
Viele Chöre haben es in ihrem Repertoire.
Es beschreibt die Wirkung, die von einem kleinen Funken ausgeht, der ein Feuer entfacht, von einem Sonnenstrahl, der durch Wolken bricht, von einem Lächeln,
das die blinde Wut vertreibt.
Eine kleine Ursache mit großer Folge.
Manchmal sind es die kleinen Dinge im Leben, die große Wirkungen zeigen:
Ein Gedankenblitz, der zu einer großen Idee wird.
Eine kleine Veränderung, die Großes bewirkt.
Eine kleine Flamme, die einen ganzen Raum erhellt.
Ein einziger Mensch, der mit seinen Ideen und seiner Art und Weise viele verändert.
Dieses Lied zu einem meiner Lieblingslieder geworden.
Peter Göb
Vielen Dank für die Möglichkeit, das Lied hier zu hören an:
Marina Hornemann (Gesang) und
Andreas Speer (Klavier).
Text und Melodie: Gregor Linßen, 1990
Einfach da sein dürfen
Einfach da sein dürfen
tief ein- und ausatmen
sich strecken
sich räkeln
Sein dürfen
vor aller Leistung
ankommen im Jetzt
dank dem tiefen Atemfluss
Ärgerliche Gedanken
vorbeiziehen lassen
wie Wolken
verweilen im Jetzt
Einfach sein
nicht besser sein müssen
im Augenblick liegt
eine starke Lebenskraft
Pierre Stutz
Lass dich nicht im Stich
Die spirituelle Botschaft von Ärger, Zorn und Wut
Ostfildern 2017
„Mach
anderen Freude, und du wirst erfahren, dass Freude freut!“
Friedrich Theodor Vischer
(aus: Bilder für die Seele 2020. Ein Augenblick Besinnung)
Dieser Spruch ist mir in einem Kalender begegnet. Meine Gedanken gingen dem nach, wo ich in der letzten Zeit solche kleinen Freuden erfahren oder auch schenken durfte. Die Erinnerung an manche Dinge brachte auch im Nachgang ein Lächeln auf meine Lippen.
Freude machen – in dieser Zeit?!
Die Art und Weise, wie wir im Alltag Freude schenken (können), hat sich in den letzten drei Monaten geändert. Zum Schutz der Gesundheit sind direkte Begegnungsmöglichkeiten eingeschränkt. Es ist ein Zusammensein auf eine neue Weise. Die veränderte Situation hat aber gleichzeitig Kreativität gefördert. Dinge werden auf neue Weise angepackt und umgesetzt. Es sind andere Gesten der Zuwendung im Alltag, manchmal kleine Gesten mit großer Wirkung.
Menschen rufen einander an. Sie hören zu, was den oder die
andere bewegt.
Sie haben ein gutes Wort füreinander. Sie treffen sich zu einem
Spieleabend über Videochat. Sie verschicken liebe Botschaften – sei es
klassisch per Brief oder als Mail und Chat oder auch als Videogruß. Sie helfen
bei technischen Schwierigkeiten mit den – von manchen zuvor wenig genutzten – digitalen Medien. Sie tauschen sich über ihre Erfahrungen im Umgang mit
dieser besonderen Zeit aus. Sie teilen Dinge, die ihnen guttun oder Dinge, die
schwerfallen. Sie …
Sie machen einander viele kleine Freuden im Alltag und erfreuen sich oft selbst mit daran.
Andrea Koucky
ein neues herz
schaffe in mir gott ein neues herz
das alte gehorcht der gewohnheit
schaff mir neue augen
die alten sind behext vom erfolg
schaff mir neue ohren
die alten registrieren nur unglück
und eine neue liebe zu den bäumen
statt der voller trauer
eine neue zunge gib mir
statt der von der angst geknebelten
eine neue sprache gib mir
statt der gewaltverseuchten
die ich gut beherrsche
mein herz erstickt an der ohnmacht
aller die deine fremdlinge lieben
schaffe in mir gott ein neues herz
und gib mir einen neuen gewissen geist
dass ich dich loben kann
ohne zu lügen
mit tränen in den augen
wenns denn sein muss
aber ohne zu lügen
Dorothee Sölle
(1929-2003), Theologin und Dichterin
© Christus Epheta, Homberg (Efze) - Christkönig, Borken (Hessen)